Heimatliches
Rosa Pflug

Der Mensch hat eine Heimat nur,
sowie ein Herz nur und ein Leben,
die ineinander sich verweben
im steten Wandel der Natur.

Bereits im ersten Lebensschrei
des Kindes klingen helle Töne:
Es grüßt die weite Welt, die schöne,
noch unbeschwert und sorgenfrei.

Da hört es Mutters Wiegenlied
und wundersame Kindermärchen.
Von Heimatliebe singt die Lerche,
vom Heimatlichen raunt das Ried.

Der ersten Lehrerin Gesicht.
Die erste Fibel. Welcher Jubel!
Welch freudetoller Pausentrubel
im strahlenwarmen Sonnenlicht!

Kaleidoskopisch eilt die Zeit...
Der Mensch hat vieles zu bezwingen,
damit aus schaffensreichem Ringen
ein bleibend Lebenswerk gedeiht.

Der Heimat — kühner Träume Flug
und guter Taten edle Triebe.
Es endet unsre Heimatliebe
erst mit dem letzten Atemzug.



Unauslöschliche Sterne
Rosa Pflug

Zärtliche Liebesworte
höre ich nur noch in Träumen.
Die Jahre wechseln die Farben
wie das Laub an den Bäumen.

Und immer anspruchsvoller
fragt mein Gewissen mich heuer:
Zahlst du auch in vollem Maße
die hohe Lebenssteuer?

Ich habe im Alltagshasten
vieles versäumt, will mir scheinen.
Und denk ich an meinen Schuldbrief,
so könnte ich fast weinen.

Kommt der Winter gezogen,
sehnen wir uns nach dem Frühling,
nach Lerchengesang und Blumen
und nach menschlicher Fühlung.

Ich vertraue den Wegen,
die weithin gehn und zurück
und im Gedächtnis bewahren
der Kindheit naiven Blick.

Wo immer ich auch kreise
in der fernsten Ferne —
überall seh ich der Heimat
unauslöschliche Sterne.



Mein Beruf
Rosa Pflug

Es gibt im Leben Tausende Berufe.
Ja, glücklich, wer den richtigen erwählt.
So mancher ist sein Lebtag auf der Suche,
weil zum Beruf ihm die Berufung fehlt.

Ich hatte Glück mit meinen siebzehn Jahren,
hab gleich den allertrefflichsten erwischt,
bin auf ein kleines deutsches Dorf gefahren
und trat verwegen vor den Lehrertisch.

Ich schwenkte meine dürftige Bagage,
vom Lehrertum noch meilenweit entfernt,
ich hatte nichts als Wille und Courage
und habe, Kinder lehrend, selbst gelernt.

Es wechselten die Klassen, Schulen, Dörfer.
Die Schüler kamen, gingen wieder fort...
Mein Schuldgefühl wird mit den Jahren schärfer,
es quält mich jedes unbedachte Wort.

Oft, scheint es mir, bin ich zu weich gewesen
und hab den Kindern wenig beigebracht.
Ich lehrte sie nur rechnen, schreiben, lesen
und hab dabei so manches falsch gemacht.

Ja, mein Beruf ist überreich an Sorgen,
doch lieb ich ihn und zweifle nicht daran:
Begänne ich die Lebensbahn erst morgen —
in jenem Dörflein fing' ich wieder an.



Wenn kaum erwacht der Tag
Rosa Pflug

Wenn kaum erwacht der Tag,
wacht auch die Lerche auf.
Sie trinkt im Roggenschlag
den klaren Morgentau.

Dann schwingt sie sich empor —
ein Fläumchen im Zenit —
und singt aus voller Brust
ihr helltöniges Lied.

Selbstlos in aller Früh
preist sie die schöne Welt;
die Silbermelodie
klingt überm Stoppelfeld.

Es zieht mich weit hinaus,
es zieht mich sonnenwärts...
Wie eine Lerche singt
mein fernwehvolles Herz.



Denk an mich
Rosa Pflug

Dir gehören alle Lieder,
alle Blumen blühn für dich.
Und sie raunen, und sie flehen:
Denk an mich, ja denk an mich.

      Wenn die Rosen blühn,
      wenn die Wolken ziehn,
      wenn der Wind
      deine Stirne küsst —
      so denk an mich.

Jedes Jahr ist ein Kalender —
viele Blätter sind daran.
Viele Blätter, viele Tage —
jeder ist ein Talisman.

      Wenn die Rosen blühn,
      wenn die Wolken ziehn,
      wenn der Wind
      deine Stirne küsst —
      so denk an mich.

Und es eilt im Zeitgetriebe
unser Leben schnell vorbei.
Unvergänglich ist die Liebe,
aber kurz der Lebensmai.

      Wenn die Rosen blühn,
      wenn die Wolken ziehn,
      wenn der Wind
      deine Stirne küsst —
      so denk an mich.



Denk an mich
Rosa Pflug

Musik: Friedrich Dortmann





Rufe mich
Rosa Pflug

Leise fallen große Flocken nieder,
hüllen Wald und Feld in weiche Decken ein.
Und der Mond macht seine Runde wieder
Silberbleich in neblig weißem Schein.

      Rufe mich, du meine Heimat,
      ich kehre von fernher zurück.
      Rufe mich, du meine Heimat,
      ich wünsch mir kein größeres Glück

Auch die zarten Birken träumen leise,
und die dunkle Tannenreihe friedlich winkt.
Eine schlichte, wohlvertraute Weise
Immerfort in meinem Herzen klingt.

Sinnend geh ich durch den Hain und schreite
In die daunenweiche Flockennacht hinein.
Zauberreich aus blütenweißer Seide!
Kann es irgendwo noch schöner sein?

Wenn ich meine liebe Heimat preise,
nehmt es mir nicht übel, Freunde, dieses Wort,
denn die schlichte, wohlvertraute Weise
klingt in meinem Herzen immerfort.



Rufe mich
Rosa Pflug

Musik: Friedrich Dortmann





Verweile
Rosa Pflug

Verweile doch bei mir.
Verweile...
Und wenn du kannst:
Bleib bitte stehn.
Lass mich nochmals
ohne Eile
in deine Augen sehn.
Abschied.
Wieder: Abschied.
Und wer ist schuld daran?
Nur ich und du
und jener Strom
von Wirrnis immerzu.
Mein Schicksalsstern
verwöhnt mich nicht
und schenkt mir öfter
Schatten als Licht.
Verweile bitte noch
bei mir.
Verweile...



Kunst der Poesie
Remon Keno
Übersetzung Rosa Pflug

Nimm dir das Wort zum Grundstein heuer
und stell das Wort auf starkes Feuer,
'ne Prise Weisheit füg ihm bei,
Naivität misch in den Brei,
ein wenig Pfeffer, etwas Sterne,
ein Stück von deinem Herzen ferner
wirf noch hinein und koch all das
im Napf der Kunst, wie's dir gefällt...
Nun schreib drauflos! Doch weißt du was?
Komm erst als Dichter auf die Welt.

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Aus dem Buch
Rosa Pflug, "Der Wind singt vom kommenden Tag",
BMV Verlag Robert Burau,
ISBN 3-935000-26-X

Im Hinterland
Rosa Pflug

Ich war
im Frondienst
bei Archangelsk.
Polarlicht.
Graue Holzbaracken.
Nadelwald und Schnee.

Mit Stacheldraht
war unser Domizil umgeben.
Man nannte uns gewöhnlich
„Njemutschastok"
und unsre Fraueneinheit
„Trudarmee".

Es durfte niemand,
niemand klagen
am neblig trüben Dwinastrand.
Vorschlaghammer,
Karren, Tragen
fügten sich der Frauenhand.

...Es war im Hinterland.
Der Himmel über uns
war durch und durch
von Scheinwerfern durchlöchert
und Brandgeschosse detonierten
südwärts irgendwo...

Kugeln schwirrten
weit entfernt von unsren Dächern –
durchbohrten aber unsre Herzen...
Uns blieb nichts übrig:
Wir verbissen unsre Schmerzen
und morgens früh gings wieder los

mit Schubkarren,
mit Brechstangen
und Spaten...
Jeden Tag das gleiche Los,
die karge Brotration
für uns Moorsoldaten.

Nein, wir vollbrachten keine Heldentaten.
Und hohe Auszeichnungen
wurden uns nicht zuteil.
Wo seid ihr heute, meine
Leidenskameraden?
In welche Himmelsrichtungen
seid ihr verstreut?

Ihr denkt gewiss wie ich an jene Jahre,
an jenen Wald und jenen Schnee,
an das Polarlicht über uns ...
Wir hatten damals keine Rechte,
nur noch Pflichten und schafften täglich
unsere zwölf Stunden.

Wo haben wir nur
Kraft und Zeit gefunden
für Handarbeiten,
Lieder und Gedichte,
zum Lachen und zum Weinen?..
Gab's irgendwann so etwas schon?

Freundschaft und vereintes Streben,
diesen Graus zu überleben,
hielten unsre Herzen warm,
war der Wald auch sonnenarm.
Wie teilten Leid und Freud und Not,
sowie das letzte Krümchen Brot.

So mancher Wind
wird mich noch streifen
und schenken manchen Blätterfall..
Doch die Erinnerung
an jene Zeiten
bleibt mir für immer, überall...


Schneesturmetüde
Rosa Pflug

                 Dem Gedenken
                 an meinen Bruder
                 Johannes PFLUG

Durchs Fenster des Wagenabteils
schimmert die Mondsichel müde,
der Steppenwind bläst den Auftakt
einer Schneesturmetüde.

Nach Ekibastus unterwegs.
Schwermuterfüllte Gedanken ...
Einsame dunkle Sträucher
im Flockengewirbel schwanken.

Vergängliches Menschenleben
von schonungslos kurzer Dauer,
rauscht es vorbei unaufhaltsam,
wie eiskalter Regenschauer.

Wem anderer Wohlergehen
sein Leben lang lag am Herzen,
der lässt in uns Sternensplitter
zurück, und noch helle Schmerzen.

Am Fenster des Wagenabteils
rüttelt der Steppenwind rüde.
Über die schlummernden Felder
braust die Schneesturmetüde.


* * *
Rosa Pflug

Vergib mir, Heimat, wenn du kannst,
dass wenig Bäume ich gepflanzt,
nicht ungebahnte Wege wählte
und niemals zu den Ersten zählte.

Und sei so gütig und vergib,
dass ich bisweilen kleinlaut schwieg
und manche Zeilen hab geschrieben,
die besser ungeschrieben blieben.

Ich hab dich inniglich geliebt
und hoffentlich dich nie betrübt,
hab dir geholfen, wie ich konnt
und nie dabei mich selbst geschont.


Dann bin ich froh
Rosa Pflug

Ein jeder Pfad, den ich gegangen,
der Norden, der mich nicht geschont,
die Weise, die ich eingefangen
hat sich gelohnt, hat sich gelohnt.
Das Heimatdorf, das mir so teuer,
mein Elternhaus, so eng bewohnt,
des Herzens ruheloses Feuer
hat sich gelohnt, hat sich gelohnt.

Auch jenes stete Vorwärtsstreben
bei Sturm und Wind, bei Sonn’ und Mond —
das ganze mühevolle Leben
hat sich gelohnt, hat sich gelohnt.
Und wenn mein Lied an trüben Tagen
vielleicht ein banges Herz erhellt,
dann bin ich froh, gelebt zu haben
auf dieser Welt, auf dieser Welt.


Unterton
Rosa Pflug

Das Dorf ist eingehüllt
in Duft von frischem Brot,
und hinter jedem Zaun
blühen die Malven rot.

Ein altes trautes Lied
erklingt im Abendschein,
und seine Weise dringt
tief in das Herz hinein.

Ich singe leise mit,
und ich bin glücklich schon -
schwingt meine Stimme auch
nur mit als Unterton.


Du sollst glücklich sein
Rosa Pflug

                 „Sag, wie lebt sich's
                 mit der andern?"
                          Marina Zwetaewa


Als du gingst,
da fiel ein kalter Regen.
Traumverloren
schwieg die dunkle Nacht.

Sag, wie geht es dir
auf deinen andern Wegen?
Sag, was hab ich
denn so falsch gemacht?

Rede nicht
von einem Wiederkommen.
Lohnt sich denn
der äußerliche Schein?

Alle Wärme
hast du mitgenommen.
Dennoch, Liebster,
du sollst glücklich sein.

Hab gelernt
auch ohne dich zu leben.
Tief ins Herz
traf damals dieser Stich.

Doch von allem
war das Schlimmste eben —
keinen andern
gabs danach für mich.


* * *
Rosa Pflug

Wenn abends leise
die Fontänen rauschen,
erklingt
ein silberheller Widerhall.

Die farbenfrohen Wasserwerfer
leuchten
und stäuben himmelwärts
den Wasserschwall.

Kapriziöse schnelle kühle Tropfen
wie Strahlengarben
tanzen da und da.

Im Wassersprudel
schimmern weiße Perlen
wie feines Spitzenwerk
aus Wologda.

Was soll der frohe
Wirbeltanz bedeuten,
und was erzählt
die kühle Melodie?

Mir scheint,
die launenhaften Wasserperlen
sind Noten
einer Frühlingssinfonie.

Sie singen lebensfreudig
ihre Weisen
von dieser Welt,
die so bezaubernd ist.

Verheißungsvolles
schäumendes Geplätscher
als Auftakt
für die nächste Lebensfrist.

Vorbei, vorbei
die unnennbaren Tage
wie leichte Segel
auf dem Meer der Zeit.

Uns bleiben viele
nicht gestellte Fragen,
und bleiben Worte
voller Zärtlichkeit.


Einfach und vertraut
Rosa Pflug

Draußen vor unseren Toren
bis spät in die Nacht hinein
krakeelen die Transistoren,
Gitarren stimmen mit ein.

Verdrängt sind die alten Weisen
durch lalala und bumbum –
man zerrt, dass die Saiten reißen
und blödelt und johlt herum.

Lauthals und endlos lange
leiert das Lalala fort.
In diesem modernen „Gesange"
versteht man kein einziges Wort.

Die Lieder unserer Väter –
die Scholle, auf der du wohnst,
und unser Opfermut später –
War das denn alles umsonst?

Es ist nun mal so im Leben,
es ändert sich ständig die Zeit.
Jedoch muss es etwas geben
das unveränderlich bleibt.

Sind fremde Lieder denn schöner
als unsre im Mutterlaut
mit ihren herzwarmen Tönen,
so einfach und so vertraut?


Pechvogel
Rosa Pflug

„Sie schauen nicht aus
wie ein erfolgreicher Mensch“,
hör ich die Leute oft sagen.

Man zweifelt
an meiner Zuversicht
und stellt indiskrete Fragen.

Und klingt in den Fragen
auch heimlicher Hohn,
will ich doch niemand betrügen:

Jawohl, ein Pechvogel
bin ich schon,
aber mit starken Flügeln.

1968 - 1988


Der Kirschenbaum blüht
Rosa Pflug

Fröhlich fließen die Gewässer,
vielverheißend raunt das Ried.
und es geht dem Menschen besser,
wenn er sieht:
der Kirschbaum blüht!

Warme Regen überschwemmen augenblicklich das Gemüt.
Und der Mensch fühlt sich so glücklich
wenn er sieht:
der Kirschbaum blüht!

Tief im Herzen brennt ein Feuer unaufhaltsam, nimmermüd.
alles wird dem Menschen teurer,
wenn er sieht:
der Kirschbaum blüht!

Gärten stehn in schönsten Trieben
und der Abendhimmel glüht.
Wieder kann man sich verlieben,
wenn man sieht:
der Kirschbaum blüht!


Darüber
Rosa Pflug

Die Wiederkehr meiner Träume:
Ein Fichtenwald weiß in weiß.
Wir Mädchen fällen dort Bäume
alleine in Schnee und Eis.

Wir schuften mit Axt und Spaten
Man gönnt uns kein bisschen Ruh.
Armierte Wachsoldaten
schauen uns gleichgültig zu.

Die Sägen schrillen verwegen –
ein herzzerreißender Ton.
Erst abends - ein wahrer Segen! –
die karge Schwarzbrotration.

Unsere wahre Geschichte
blieb lang ein Gedankenstrich.
Darüber schreiben Gedichte
jetzt viele besser als ich.


An wolkenschweren Tagen
Rosa Pflug

An wolkenschweren tristen Tagen,
wenn ich betrübt und traurig bin,
hör ich im Wald die Drossel fragen:
Wer bist du? Und wo willst du hin?

Die Drossel pfeift mir ihre Lieder
und schaut mich an mit hellem Blick:
Verirr dich nicht und komm bald wieder.
Im Heimatland liegt unser Glück.

Du kannst dich mit der Sonne messen,
doch dämpf den Schritt am Waldesrand.
Und niemals solltest du vergessen
den Ort, wo deine Wiege stand.

An wolkenschweren tristen Tagen,
wenn ich betrübt und traurig bin,
hör ich im Wald die Drossel fragen:
Wer seid ihr? Und wo wollt ihr hin?


Endlos ist mein Leid
Rosa Pflug

Wie die Jahre fliehen —
oh, man merkt es kaum.
Meine Wolgaheimat
seh ich oft im Traum.

Seh die breiten Straßen
und mein Elternhaus,
eile ungeduldig
oft aufs Feld hinaus.

Ob die Ährenhalme
rauschen fern und nah,
ob noch Tulpen blühen
in Antonowka?

Ob die Fenster leuchten
hell bis abends spät?
Ob der alte Ahorn
noch am Dorfrand steht?

Fragen voller Wehmut,
keine Antwort drauf.
Nebelhafte Schatten
fallen schräg hinauf.

Haben sich zerstritten
Traum und Wirklichkeit?
Maßlos ist die Trauer,
endlos ist mein Leid.


* * *
Rosa Pflug

Mir träumte so lange
ein schattiger Wald,
wo lockend der Nachtigall
Lied widerhallt.

In unendlich trüben
und trostlosen Tagen
hörte ich Wellen
ans Ufer schlagen.

Hinter den grasgrünen
Wimpern der Wiesen
sah ich die roten
Tulpen ersprießen.

Und unter dem grauen
niedrigen Himmel
hörte ich klagen
des Wolgalands Stimme...


* * *
Rosa Pflug

Vater pflügte, Vater säte
Ohne Rast und Ruhe.
Als es Zeit zum Ernten war,
schleppte ihn der Schwarze Rabe
fort für nimmerdar.


Gruss aus der Ferne
Rosa Pflug

Mein Heimatdorf in der Steppe,
mein wogender Wolgafluss,
aus der entferntesten Ferne
sende ich euch meinen Gruß.

Ich grüße die breiten Gassen,
die Bäume vorm Elternhaus.
Auf ihren schwankenden Ästen
ruhen die Stare sich aus.

Ferne Harmonikatöne.
Mondlicht spiegelt der Teich,
und leise zirpen die Grillen
im dichten Rosengesträuch.

Ich grüße auch gerne die Menschen,
obwohl sie mir unbekannt.
Sie bewohnen jetzt unsre Häuser,
und bearbeiten unser Land,

an dem unsre Herzen hängen,
das lieb und teuer uns ist...
Die ungerechte Verbannung
hat keine begrenzte Frist.

Aus der entferntesten Ferne
sende ich meinen Gruß
dem Heimatdorf in der Steppe,
dem wogenden Wolgafluss.


Wie eine Birke
Rosa Pflug

Ich seh die alte Kirche
und Schwalben über ihr,
wie Seelen aus der Urzeit
mit freudigem Geschwirr.

Die Kuppel ist verrostet,
von keinem Kreuz gekrönt,
verstummt sind auch die Glocken,
die einst so schön getönt.

0 altvertraute Weise,
die in die Seele drang
und alle Herzen rührte
mit ihrem Silberklang.

Die Windmühle am Wegrand
steht wie ein Waisenkind,
und ihre Flügel ruhen
im steten Steppenwind.

Ich möcht als eine Birke
einst stehn im Heimatort,
wo ich die Welt erblickte
und musst für immer fort.


Für immer
Rosa Pflug

Wellenfreier Wasserspiegel.
Dunkle Stille. Dunkler See.
In die kühlen Wasser werf ich
all mein dunkles Seelenweh.

Will mich weiter nicht mehr grämen
um die Heimat wohlvertraut,
wo jetzt andre Lüfte wehen
und ein andrer Himmel blaut.

Will für immer dich verlassen.
Weiß noch nicht, wohin ich geh.
Wellenfreier Wasserspiegel.
Dunkle Stille. Dunkler See.


An einem stillen Morgen
Rosa Pflug

Stiller Morgen.
Maiwind leise
über unsre Steppe weht.

Hast du alle
meine Träume
in den Koffer reingelegt?

Dann geh ruhig,
geh für immer
von dem heimatlichen Strand.

Sollen weite
breite Wege
dich erfreun im fremden Land.

Da gibt's Glück,
auch da scheint Sonne,
reine Quellen gibt's da auch,

doch du wirst dich
immer sehnen
nach der Heimat herbem Rauch.


Das Schicksal
Rosa Pflug

Uns führte das Schicksal
am Gängelband lang.
Wir waren geduldig
und warteten bang.

Wir haben uns selten,
zu selten gesträubt,
von Lügen geblendet,
von Eiden betäubt.

Entschlüsse gewinnen
allmählich Gestalt.
Wir stehen am Abgrund,
verlieren den Halt,

verschmerzen Verluste
und suchen Gewinn mit
Russland im Herzen
und Deutschland im Sinn.


Der abgebrochenen Ast
Rosa Pflug

Der Wind hat abgebrochen
einen Ast vom Baum
und treibt ihn in die Ferne,
in einen fremden Raum.

Der Ast fügt sich dem Schicksal.
Er hat ja keine Wahl
und winkt dem Baum nur traurig
zum allerletzten Mal.

Der Wind treibt in die Ferne
diese leichte Last.
Ob es wohl eine Heimat
gibt für den losen Ast?


* * *
Rosa Pflug

Der Wagen rollt,
der Wagen rollt.
Die Schicksalsräder rattern.
Die Tränen fließen ungewollt
und Sehnsuchtsbriefe flattern.

Die Seele friert,
die Seele friert.
Sie fühlt sich ungeborgen.
Die Heimat, die man heut verliert,
die findet man nicht morgen.


Vor Sonnenaufgang
Rosa Pflug

Wie oft
stand früher ich
vor Sonnenaufgang
am Wolga-Ufer
und atmete
den frischen Duft
der Purpurweiden.

Die kühlen Wasser
eilten schaufreudig
dem Süden zu
und spülten Fernweh
in mein Herz.
Dahin war meine Ruh!

Die Wangen glühten
wie Rosenblüten,
und oft
hab ich geträumt
und hab gehofft...

Wie oft
stand später ich
vor Sonnenaufgang
am Dwina-Ufer
und sehnte mich
nach meinen Lieben
in weiter Ferne.

Die Wellen trugen
mein banges Warten
zum Weißen Meer.
Doch keine Antwort –
nur kaltes Schweigen
war ringsumher.

Und mich verfolgten
nachtschwarze Wolken
und oft
hab ich geweint
und hab gehofft...

Wie oft
stand ich
vor Sonnenaufgang
am Irtysch-Ufer
und fühlte wohl,
dass längst vorbei
die Jugendjahre.

Doch wie viel Schönes
ist mir geblieben noch
auf dieser Welt,
weil mir, wie einst,
die Sonne leuchtet
vom Himmelszelt,

weil ferne Wege
mich noch bewegen –
und oft
wird noch geträumt
und wird gehofft!
Wie oft
steh heute ich
am lauen Sonnenabend
am Spree-Ufer
und fühl mich wohl,
wie längst nicht mehr:
ich bin zu Hause...

1988 - 1994


Einfache und doch so nicht einfache Gedanken
Rosa Pflug

Narben des Krieges ...
Der Riss, der durch die Welt ging,
blutet noch heute...

Liebe zur Heimat
kommt nicht nur aus Wissen
auch aus Erleben.

Jeder müsste dafür sorgen,
dass es ein Morgen
und ein Übermorgen gibt.

„Langsamer, ihr Rosse",
sang Wyssozki.
Doch sie hörten nicht…

Ein Jahr ist vorbei -
ein Augenblick und Ewigkeit
gleichzeitig.

Leicht gesagt und schwer getan:
Schreiben wie man lebt
und leben wie man schreibt.

Wir sind nicht Staub im Wind —
wahrhaftig! Doch so manche Seele
ist mit Staub bedeckt

Leben kann man überall,
doch man braucht ein Land,
wo man zu Hause ist.

Zerschellter Traum:
Reisen durch die weite Welt,
sorglos und frei.

Die Welt lag zwischen
den Deckeln der Bücher.
So war es bei mir.

Mein Lebensteppich,
aus Zufallsfarben geknüpft,
war nie der meine...

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Auswahl aus:

1. Rosa Pflug, „Im Heimatgefilde“, Verlag Kasachstan, 1977



2. Rosa Pflug, „Unauslöschliche Sterne“, Verlag Kasachstan, 1985



3. Rosa Pflug, "Der Wind singt vom kommenden Tag", BMV Verlag Robert Burau, ISBN 3-935000-26-X